Mit Wandern dem Diktat der Agenda entfliehen
Als Projektmitarbeiter in einem 50 Prozent Pensum bleibt er der Stadtkanzlei erhalten, als Stadtschreiber allerdings begeht Toni Inauen heute nach 31 Jahren in dieser Funktion seinen letzten Arbeitstag. Der Energiespeicher ist fast leer - insbesondere auch aufgrund einer schwer belastenden Situation im Privatleben.
Rathaus «Es ist ein hochinteressanter und spannender Job, den ich machen durfte. Es war genau diese abwechslungs- und anforderungsreiche Aufgabe, die mir perfekt gepasst hat», erklärt Toni Inauen auf die Frage, warum er seinem Amt so lange treu geblieben ist. Er habe in diesen drei Jahrzehnten verschiedentlich abgewogen, ob er sich beruflich verändern wolle, doch die Bilanz habe immer für seine aktuelle Stelle als Stadtschreiber gesprochen. Die Hauptaufgabe in diesem Beruf bestehe darin, die Übersicht über alle Geschäfte zu behalten und diese so vorzubereiten, dass den Entscheidungsträgern zum richtigen Zeitpunkt alle Informationen für fundierte Entscheidungen vorlägen. «Es sind stets rund 700 bis 1000 Geschäfte erfasst, von denen keines untergehen darf. Als Stadtschreiber muss man immer zwei bis drei Monate voraus denken», erzählt Inauen. Dass er als Stadtschreiber eine Art sechster Stadtrat oder gar ein Schattenminister gewesen sei, verneint er: «Ich habe mein Amt immer so verstanden, dass ich den Entscheidungsgremien möglichst gut zudiene. Entsprechend hielt ich mich im Hintergrund und habe an Stadtratssitzungen nur geredet, wenn ich angesprochen wurde oder wenn beispielsweise eine Information nachzuliefern war. Das Amt heisst ja auch Stadtschreiber und nicht Stadtredner», schmunzelt der 61-Jährige.
Von der Gemeinde zur Stadt
In gut drei Jahrzehnten hat Inauen mit drei Gemeindeoberhäuptern zusammengearbeitet. Einen Vergleich zwischen Johann C. Krapf, Gossaus letztem Gemeindeammann, und den Stadtpräsidenten Alex Brühwiler und Wolfgang Giella möchte Inauen nicht ziehen. «Summarisch kann ich festhalten, dass ich gegangen wäre, wenn es für mich nicht gestimmt hätte. Denn in einem konfliktbeladenen Umfeld hätte ich nie arbeiten können», so Inauen. Der Stadtpräsident sei die wichtigste Ansprechperson für den Stadtschreiber und natürlich habe jeder der drei anders gearbeitet, aber er sei schliesslich anpassungsfähig. Mehr ist Inauen über seine Vorgesetzten nicht zu entlocken. Eine ganz besondere Zeit sei der Übergang von Johann C. Krapf zu Alex Brühwiler gewesen, als Gossau auf den 1. Januar 2001 eine neue Gemeindeordnung erhielt, den Parlamentsbetrieb einführte, die Zahl der Gemeinderäte von elf auf sieben reduzierte und sich ein neues Erscheinungsbild und einen neuen Auftritt als Stadt gab. Damals wurden die Politische Gemeinde, die Schulgemeinde sowie die Gemeindesekundarschulgemeinde zusammengeführt. «Das hat mein Jobprofil massiv verändert. Auf der einen Seite war es eine sehr intensive und strenge Zeit, auf der anderen Seite aber auch eine geniale Herausforderung - ja fast ein Geschenk - an diesem Gestaltungsprozess teilnehmen zu dürfen», erinnert sich Inauen zwanzig Jahre zurück. Da die damaligen Gemeinderäte mehrheitlich zurücktraten, die neuen Stadträte inklusive Präsident aber noch nicht im Amt waren, habe er enorm viel Organisationsarbeit leisten müssen.
Nach Rom oder Belgrad - zu Fuss!
Seit der Einführung des Parlamentsbetriebs ist Inauen auch für die Vorbereitung der Sitzungen des Parlaments zuständig. Auf den Hinweis, dass er an Parlamentssitzungen manchmal als Einziger das Reglement im Kopf hatte, meint Inauen: «Während die Parlamentspräsidentin oder der Parlamentspräsident jeweils erst seit wenigen Monaten in dieser Funktion amtet, bin ich seit 20 Jahren dabei. Da sehe ich es als meine Aufgabe, das Präsidium in reglementarischen Fragen zu beraten.» Er habe immer ein Reglement auf dem Tisch gehabt und manchmal selbst nachschauen müssen. Generell sei das Verhältnis zu den Parlamentsmitgliedern wie auch zu den Stadträten sehr gut gewesen. Dass er allerdings wie einzelne Alt-Parlamentarier in Zukunft an den Sitzungen im Publikum sitzen wird, glaubt Inauen nicht: «Ich würde wohl als Aufpasser wahrgenommen und das möchte ich auf keinen Fall.» Ausser den engen Kontakten zu den Vertreterinnen und Vertretern der Exekutive und der Legislative werde er nur sehr wenig vermissen, wenn er ab morgen nicht mehr Stadtschreiber ist. «Glücklicherweise darf ich weiterhin im Team der Stadtkanzlei weiterarbeiten. In diesem fühle ich mich rundum wohl», so Inauen. Die nächsten Monate werde er für seine Nachfolgerin Beatrice Kempf stets greifbar sein, danach jeweils monateweise arbeiten und monateweise seinem Hobby, dem Weitwandern, frönen. Noch sei aufgrund der Pandemie unklar, wohin es ihn im Herbst ziehen werde, aber auf dem Plan stünden für die nächsten Jahre beispielsweise Wanderungen nach Rom sowie Richtung Belgrad. Ausserdem müsse er auf seiner Wanderung nach Trondheim noch ein Stück zurücklegen. «Ich werde mit dem Zug nach Dänemark fahren. Bis dahin bin ich schon gewandert. Von dort geht es schliesslich nach Norwegen.»
Energiespeicher fast aufgebraucht
Er sei sein Leben lang gerne gereist, erzählt Inauen und schwärmt spontan von einer Reise mit der transsibirischen Eisenbahn. «Meine Frau und ich waren richtige Reisefüdlis und haben jede Gelegenheit ergriffen. Auch als sie an Krebs erkrankt war, haben wir noch viele Reisen unternommen», erzählt der dreifache Vater. Die schwere Erkrankung seiner Frau bezeichnet er als einen der Hauptgründe für die Reduktion seines Pensums. «Die Pflege hat mich so viel Energie gekostet, zum Schluss wäre ich fast zusammengeklappt. Aber ich bin sehr dankbar, dass ich ihr ihren Wunsch, bis zu ihrem Tod im vergangenen Jahr zuhause bleiben zu können, erfüllen konnte», erzählt Inauen. Doch gerade die letzten beiden Jahre seien auch enorm belastend gewesen und hätten ihm die Energie geraubt. Beruflich sei es in der Regel ohnehin sehr streng gewesen. «Man muss als Stadtschreiber verschiedenen Stakeholdern gerecht werden und hat eine Fehlertoleranz von null. Auch am Wochenende konnte ich teilweise schlecht abschalten», erzählt Inauen. Er freue sich sehr, nun dem Diktat der Agenda zu entfliehen. Er habe wohl auch deshalb Ferien im Ausland oder zumindest fern von Gossau so sehr genossen, weil er nur auswärts total habe abschalten können. Körperlich sei er aber topfit und entsprechend wolle er nun seine Wanderprojekte umsetzen und nichts herauszögern in eine Zeit, wenn der Körper vielleicht nicht mehr mitspiele. «Mal schauen, was das Leben noch bringt», sagt der 61-Jährige und lächelt verschmitzt.
Von Tobias Baumann