Christof Huber
gab vergangene Woche den ersten Teil des OASG-Line-Ups bekannt.
José Amrein führt eine logopädische Praxis mit Spezialisierung in der Stottertherapie. Im Interview erzählt der 59-Jährige, wie Stottern verursacht wird, welche Therapieansätze helfen und welche Tipps mehr Schaden anrichten als zu helfen.
Kommunikation In der Schweiz leben etwa 90'000 Menschen, die vom Stottern betroffen sind. Ein Prozent aller erwachsenen Menschen stottert. Das sind rund 80 Millionen Menschen weltweit. Darunter berühmte Persönlichkeitaen wie der Sänger Ed Sheeran oder die Schauspieler Rowan Atkinson alias «Mister Bean» und Bruce Willis.
José Amrein, was sind Redeflussstörungen?
Redeflussstörungen sind Auffälligkeiten im Sprechablauf, die verschiedene Ursachen haben und sich in verschiedenen Störungsbildern zeigen können.
Was sind das für Störungsbilder?
Es kann zu Beschleunigungen und Verlangsamungen des Sprechflusses, aber auch zu Wiederholungen, Dehnungen, Zusammenziehungen und Blockaden kommen.
Wie wird Stottern verursacht?
Die Mehrheit der Fachleute vertritt die Meinung, dass Stottern zu einem grossen Teil genetisch bedingt ist. Das bedeutet, dass eine Veranlagung zu stottern vererbt werden kann. Diese Veranlagung scheint Auffälligkeiten im Gehirn zu verursachen, wie bildgebende Untersuchungen gezeigt haben. Damit ist die früher verbreitete Theorie, dass ein bestimmtes Erziehungsverhalten oder negative Erlebnisse in der Kindheit Ursachen für Stottern sind, widerlegt. Trotzdem ist nach wie vor nicht endgültig geklärt, warum manche Menschen stottern und andere nicht. Eine klare Ursache, die auf alle stotternden Menschen zutrifft, gibt es nicht, aber: Stottern ist keine psychische oder intellektuelle Störung. Da die meisten stotternden Menschen alleine vor dem Spiegel ganz flüssig sprechen, ist davon auszugehen, dass beim Stottern auch soziale, mentale und emotionale Aspekte eine Rolle spielen.
Welche Therapieansätze werden bei der Behandlung angewandt?
Meine Erfahrung zeigt, dass sich insbesondere das Verlangsamen des Redetempos bewährt. Die Verbesserung des Selbstvertrauens, der Entspannung und der aktiven Kommunikation sind weitere wichtige Bestandteile der Therapie. Von grossem Nutzen ist es auch, eine gute Einstellung zum Stottern zu finden. Extra zu stottern kann die Angst vor Sprechblockaden verringern.
Wie das?
Offenes, bewusstes Extra-Stottern oder Pseudostottern vor Fremden und bekannten Leuten führt zu mehr Selbstannahme und verschafft einen freieren lockeren Umgang mit dem Stottern, was die Sprechflüssigkeit verbessert.
Weshalb ist ein starkes Selbstbewusstsein wichtig?
Die Förderung des Selbstbewusstseins trägt viel zur Verbesserung des Redeflusses bei. Wenn stotternde Personen entspannt und vor allem selbstsicher sind, reden sie viel flüssiger.
Gibt es bestimmte Übungen?
Autogenes Training, Mentaltraining und Körperwahrnehmungsübungen können hilfreich sein. Eine gute Einstellung zum Stottern zu finden und das Stottern möglichst gut zu akzeptieren, bewirkt meistens weitere Fortschritte. Für stotternde Personen ist auch die In-vivo-Arbeit von grossem Nutzen.
Was ist damit gemeint?
In-vivo-Arbeit beim Stottern bezieht sich auf das Trainieren realer Lebenssituationen ausserhalb des traditionellen Therapiesettings. Dies zielt darauf ab, Personen, die stottern, dabei zu helfen, ihre Sprechangst zu überwinden, Sprechfähigkeiten in alltäglichen Situationen zu üben und ihr Selbstbewusstsein im Umgang mit dem Stottern zu stärken.
Nennen Sie spezifische Beispiele?
Es ist hilfreich, dass sich stotternde Personen bewusst Situationen aussetzen, die sie normalerweise vermeiden würden – wie in der Öffentlichkeit zu sprechen, in Restaurants zu bestellen, mit Fremden zu telefonieren oder zu flirten. Die Idee ist, durch wiederholte Exposition die Angst vor dem Stottern zu verringern.
Wie können Familie und Freunde helfen?
Einerseits sollen stotternde Menschen andere über ihr Sprechproblem offen informieren und sich in ihrer Kommunikation nicht durch das Stottern einschränken lassen, andererseits sollen Eltern und Freunde das Stottern offen ansprechen, ohne es zu dramatisieren. Das Akzeptieren des Stotterns und ein lockerer Umgang sind von grossem Wert. Ruhe, Entspannung, Lockerheit und Humor können viel bewirken.
Und welche gut gemeinten Tipps sind für Stotternde wenig hilfreich?
Stotternde Menschen hassen jede Art von Tipps und Ratschlägen. Sprich langsam, hole zuerst Luft, überlege, bevor du sprichst. Diese Tipps sind meist gut gemeint, verstärken aber die Unsicherheit und Anspannung bei stotternden Menschen. Auch Ratschläge von Verwandten oder Freunden helfen den Stotternden und ihren Bezugspersonen nicht und sind sehr unbeliebt. Es empfiehlt sich der Kontakt mit einer Fachperson, die sich im Bereich der Stottertherapie spezialisiert hat.
Was sind die neuesten Entwicklungen bei der Behandlung?
In den letzten Jahren und Jahrzehnten forschte und experimentierte man intensiv. Es wurden Geräte erfunden und man suchte nach Medikamenten. Leider hat sich davon nichts durchgesetzt. Gemäss meiner Erfahrung sind langsame Reden, Entspannung und Selbstsicherheit die Zaubermittel für flüssiges Sprechen.
Wie lange dauert eine Behandlung?
Das ist individuell sehr verschieden. Eine Behandlung dauert in der Regel eins bis drei Jahre. Stotternde Menschen reden allein vor dem Spiegel meist flüssig. Dies zeigt: Flüssiges Sprechen zu erreichen, ist ein ganzes Leben lang möglich.
Interview Benjamin Schmid
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